Wandelbare Membranen für die Stadt

Optimierung verfahrbarer Seilschirme zur Kühlung urbaner Räume

Abstract
Wandelbare Membrandächer erlauben gezielte Verschattungen und können effektiv beitragen, sommerliche Überhitzung in Städten zu reduzieren. Dabei ergibt sich durch die Wandelbarkeit der Überdachungen eine besonders effektive Kühlung. Im städtischen Kontext eignen sich für diesen Einsatzbereich Dächer in einer Größenordnung von ca. 100m² - 2.000m² Fläche, um geeignete Innenhöfe, Straßenräume und Plätze temporär zu überdecken. Aufgrund der Komplexität beweglicher, konstruktiv vorspannbarer Membrantragwerke sind solche Anwendungen bis heute sehr selten.

Sowohl für die CO2-Vermeidung als auch die Klimafolgenanpassung in Städten stellen wandelbare Dächer wirkungsvolle Maßnahmen dar, die sehr rasch umgesetzt werden können. Durch die Forschung und Tests an einem prototypischen Pavillon sollen architektonische und technische Probleme identifiziert und gelöst werden, um die Anwendung in der Breite zu ermöglichen. Hierbei steht das System eines Seilschirms mit wandelbarer Membrane im Fokus, welches für viele städtische Situationen besonders geeignet erscheint.

Der Forschungspavillon auf dem Campus der Hochschule dient zur systematischen Untersuchung von detaillierten technischen Fragestellungen, u.a. zur Antriebstechnik, Aufhängung der Membrane, Wirkung und Faltverhalten unterschiedlicher textiler Materialien für die Dachhaut, etc. Durch Langzeitmessungen von Luft- und Bauteiltemperaturen und Vergleich mit Simulationen soll auch die Kühlwirkung quantifiziert werden, um den konkreten Nutzen für künftige Projekte berechnen und besser kommunizieren zu können.

Ausgangssituation und Motivation
Städte sind aufgrund des Klimawandels immer öfter durch extreme Hitzewellen betroffen. Die fortschreitende Erderwärmung verstärkt den als „urban heat island“ bekannten Effekt, wobei sich städtische Gebiete deutlich stärker aufheizen als die ländliche Umgebung. In verschiedenen Forschungsberichten (u.a. „Strategies for cooling Singapore“, ETH Zürich 2017) wurden auch wandelbare Membrandächer als eine wirkungsvolle Maßnahme zur Kühlung städtischer Räume identifiziert. Mobile Überdachungen weisen gegenüber stationären Dächern eine erheblich bessere Kühlwirkung auf: Während tagsüber bei Bedarf verschattet und damit die Aufheizung vermindert wird, kann nachts bei geraffter Membrane eine besonders effektive Kühlung stattfinden, indem die unverdeckten Bauteile ihre Wärme direkt gegen den Nachthimmel abstrahlen. Der Wärmeaustausch über Strahlung zwischen erwärmten Bauteilen und dem klaren Nachthimmel führt nach den Gesetzen der Thermodynamik zu erheblich stärkerer Abkühlung als bei auch nachts überdeckten Bauteilen (Stefan-Boltzmann-Gesetz). Nachts geöffnete Stadträume und Innenhöfe erlauben zudem stärkere Luftströmungen, die zusätzlich Wärme abführen.

Der konstruktive Membranbau ist eine junge Disziplin im Bauwesen. Durch den Pionier Frei Otto und sein Institut für leichte Flächentragwerke wurden diese Sonderkonstruktionen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts systematisch entwickelt. Realisierte Großprojekte wie das Olympiadach München und der Sonderforschungsbereich 64 (Universität Stuttgart, SFB 64 weitgespannte Flächentragwerke, 1970 bis 1985) trugen maßgeblich dazu bei, das Bauen mit textilen Membranen und Seilnetzen zum Stand der Technik zu etablieren. Das Team um Frei Otto untersuchte auch wandelbare Dächer und konnte erste Projekte dazu umsetzen. Bis heute sind diese beweglichen Konstruktionen aber noch selten geblieben.

Prof. Nikolai Kugel arbeitet seit über 20 Jahren als Architekt im Bereich des textilen Bauens und hat sich auf wandelbare Membrandächer spezialisiert. Im Zuge seiner selbstständigen Arbeit entwickelte er ein neues Antriebssystem, welches sich besonders gut für textile Dächer mittlerer Größe eignet. Es können damit Membranen mit einer Fläche von ca. 100m² – 2.000m² besonders einfach aufgespannt und zusammengefaltet werden.

Dieser neu entwickelte Antriebsmechanismus für zentral faltbare Membrandächer basiert auf dem Grundgedanken, das komplette Antriebssystem in das Zentrum der Dachkonstruktion zu legen und durch nur einen Elektromotor zu bewegen. Hierdurch konnte die bei großen Dächern (insbesondere Stadionüberdachungen) übliche Komplexität peripher angeordneter Antriebssysteme, verbunden mit aufwändiger Steuerungs-, und Sensortechnik, für kleinere Dächer dramatisch vereinfacht werden.

Der Forschungspavillon
Der textile Seilschirm wurde als standortunabhängige Konstruktion konzipiert und dient als Versuchsanordnung zur Klärung verschiedener technischer und ästhetischer
Fragestellungen. Die Fläche der zentral raffbaren Membrane hat mit ca. 112m² eine
Größenordnung, die sich für viele städtische Situationen eignet. Als erster Standort auf dem Campus wurde der Bereich direkt vor den Haupteingängen der Hochschule gewählt. Der Bau des Pavillons wurde vom TÜV Rheinland begleitet, er wurde als „fliegender Bau“ zertifiziert und kann ohne Fundamente an verschiedenen Standorten aufgestellt werden.

Die Konstruktion des Pavillons basiert auf einer elliptischen Geometrie mit achssymmetrischer Membranform. Der zentrale Mast ist als Luftstütze ausgebildet, die von radial angeordneten Seilen getragen wird. Gemeinsam mit den oberen Tragseilen entsteht ein vorgespanntes „Speichenrad“ in elliptischer Form. Die Membrane ist an den oberen Speichenseilen aufgehängt und kann über einen zentralen Antriebsmechanismus und Reffseile bewegt werden. Im aufgespannten Zustand hat die Membrane Gefälle nach außen und entwässert in die Rinne des Druckrings. Über der Luftstütze sitzt die zentrale Antriebseinheit, bestehend aus einem Elektromotor mit Untersetzungsgetriebe, der 16 umlaufend angeordnete Seilwinden bewegt. Die Seilwinden sind mechanisch über Gelenkwellen gekoppelt und treiben die Reffseile an. Jedes Reffseil bewegt im Reversierbetrieb den jeweils ersten Gleitwagen einer Achse. An diesen Gleitwagen sind die Membranrandspitzen befestigt. Die Membrane ist an weiteren Gleitern aufgehängt, diese werden beim Öffnen bzw. Schließen des Daches entlang des oberen Speichenseils mitgezogen bzw. mitgeschoben und sind nicht mit dem Reffseil verbunden. Die Konstruktion des zentralen Antriebsrings wird durch Plexiglasscheiben zu einem Schutzdach ergänzt, unter welchem die zusammengeraffte Membranhaut geparkt wird.

Die primäre Stahlkonstruktion des Versuchsbaus besteht aus einem elliptischen Druckring auf 4 V-förmigen Stützen. Die Stahlkonstruktion ist ein durch Seile hoch
vorgespanntes System, in welchem die Kräfte über den Druckring kurzgeschlossen
werden. Der Druckring besteht aus einem torsionssteifen Kasten, ergänzt um eine
wasserführende Rinne. Die Membrane darf bis zu einer Windgeschwindigkeit von 20m/s (8 Beaufort) aufgespannt sein, bei höheren Windgeschwindigkeiten muss sie zusammengefaltet werden. Die Vorspannung für die Membranhaut beträgt ca. 0,2kN/m. Aus Sicherheitsgründen ist das Tragwerk so ausgelegt, dass auch bei vollen Windlasten und versehentlich aufgespannter Membrane keine Schäden am Stahltragwerk entstehen können. Das Dach ist nicht auf Schneelasten ausgelegt. Die Konstruktion gibt resultierende Lasten über 4 Stützenfußpunkte an den Boden ab. An jedem Stützenfuß entstehen auch vertikale Auflagerreaktionen. Es werden entsprechende Beschwerungen aus Stahl an die Stützenfüße angebracht.

Die wasserdichte, textile Dachhaut ist punktuell an Gleitern aufgehängt und nimmt im aufgespannten Zustand die Form eines flachen Kegels mit zentralem Hochpunkt an. Die Membranränder sowie die Flächennähte unter den Seilachsen werden durch eingepackte Polyestergurte verstärkt. Die Membrane wird aus einem Gewebe konfektioniert, das besonders knickbeständig ist und hohe Qualitätsansprüche erfüllt. Um verschiedene Membranmaterialien testen zu können, wird die Konstruktion für einen unkomplizierten Austausch der Membranhaut vorbereitet.

Der Antriebsmechanismus wird durch einen untersetzten Elektromotor bewegt, mittels Absolutwertgeber kann zuverlässig auf genau einstellbare Endpositionen verfahren werden. Die Steuerung erfolgt über SPS und ein Bedienfeld, zusätzlich kann remote auf die Steuerung zugegriffen werden.

Das Membrandach bietet aufgespannt einen wettergeschützten Außenbereich in unmittelbarer Nähe zu Werkstatt und Arbeitsplätzen der Studierenden. Über die Versuchsreihen hinaus können unter dem Schirm im Rahmen verschiedener Lehrveranstaltungen beispielsweise große Versuchsmodelle errichtet und getestet werden. Der nach Bedarf überdeckte Außenbereich kann sehr gut auch für weitere Veranstaltungen als Witterungsschutz dienen und somit einen interessanten Beitrag zu Attraktivität auf dem Hochschulcampus leisten. Darüber hinaus kann der Versuchsbau an anderer Stelle aufgestellt und beispielsweise als mobiler Pavillon auf einem städtischen Platz zur Außendarstellung der Hochschule beitragen.

Alleinstellungsmerkmal
Das beschriebene System des zentralen Antriebs wurde im deutschsprachigen Raum durch den Antragssteller als „radial raffbares Membrandach“ patentiert (Deutschland: Patent Nr. 10 2014 002 588, Österreich: Patent Nr. 514 191, Schweiz: Erfindungspatent Nr. 707 721). Die Patentierung wurde ergänzt durch einen Geschmacksmusterschutz, insbesondere für die trichterförmige Membrangeometrie (EUIPO No 003492016-0003). Diese Schutzrechte unterstützen wirksam das Alleinstellungsmerkmal des Forschungsgegenstandes.

Forschungsvision 
Die bisher seltene Realisierung wandelbarer Membrandächer basiert nach Erfahrung des Antragstellers auf der hohen Komplexität für Planung und Ausführung, mit der entsprechende Risiken und Kosten für die Bauherrschaft verbunden sind. Durch die Forschung am Prototyp sollen anwendungsbezogene Fragestellungen geklärt und solide Regeldetails entwickelt werden, um zukünftig einen breiten, ökonomischen Einsatz zu befördern.

Der im städtischen Umfeld mögliche, vorbeschriebene Kühleffekt wandelbarer Dächer soll in die breitere Forschung zu Klimaanpassung und CO2-Reduktion eingebunden werden. Durch bauphysikalische Simulationen und begleitende Versuchsmessungen kann die tatsächliche Kühlleistung quantifiziert werden. Aus dieser Betrachtung kann direkt ein Äquivalent an CO2-Einsparung errechnet werden, da ansonsten notwendige, konventionelle Klimatisierung reduziert bzw. eingespart wird. Durch die Möglichkeit, konkret die kühlende Wirkung zu berechnen, können sich entscheidende Grundlagen für die politische und baurechtliche Beurteilung ergeben. Eine baurechtliche Einordnung der temporären Überdachungen als „Klimaanlage“ und damit Teil der Haustechnik kann zu erheblich einfacheren Genehmigungsverfahren führen; in manchen Städten (beispielsweise Wien) werden bisher Innenhofüberdachungen als rein bauliche Maßnahmen grundsätzlich nicht gestattet.

Auf dem Markt sind nur wenige geeignete Materialien für eine hoch vorgespannte und zusammenfaltbare textile Dachhaut verfügbar. Neben PVC-beschichteten Polyestergeweben sind dies insbesondere hochwertige PTFE-Gewebe (Polytetrafluorethylen), die bisher alle Anforderungen wie Festigkeit, Faltbarkeit, Dauerhaftigkeit, Brandverhalten etc. erfüllen. Gemeinsam mit Herstellern textiler Membranen kann nach neuen Materialien und Materialkombinationen geforscht werden, die sich für den Einsatz von textilen Faltdächern in der beschriebenen Größenordnung gut eignen. Da aktuell ein weltweit führender Hersteller von beschichtetem PTFE-Gewebe, das speziell für den architektonischen Einsatz entwickelt wurde, seine Produktion eingestellt hat (SEFAR Architekturgewebe TENARA, CH), ist die Suche nach hochwertigen Ersatzmaterialien derzeit besonders akut notwendig. Bisher nicht getestete, bereits verfügbare Materialien (z.B. PU-Material „Weathermax“) scheinen geeignet und könnten am Versuchsstand rasch den notwendigen Langzeittests zum Faltverhalten unterzogen werden. Indem über das geprüfte Langzeitverhalten geeignete Materialien identifiziert werden, die günstig verfügbar sind, wird die breitere Anwendung in Zukunft wirksam unterstützt.

Die anwendungsorientierte Forschung an einem faltbaren Seilschirm zu dessen Optimierung kann den zukünftigen Einsatz dieser Technologie insbesondere im städtischen Kontext wirksam unterstützen. Über die Kühlwirkung leistet sie einerseits einen Betrag zur CO2-Reduktion, andererseits bildet Sie einen Baustein für die rasch notwendigen Klimafolgen-Anpassungsmaßnahmen, mit denen Städte weltweit zukünftig an die höheren Temperaturen reagieren müssen. Die besondere Eignung für mitteleuropäische Städte kann dabei hervorgehoben werden. Während südliche Stadtstrukturen mit engen Gassen und hoher gegenseitiger Verschattung baulich bereits auf höhere Temperaturen angepasst sind, werden in unseren Breiten die sehr offenen Strukturen mit breiten Straßenquerschnitten etc. durch Hitze besonders ungünstig betroffen. Da primäre Stadtstrukturen kaum und nur sehr langsam umgebaut werden können, ist in diesem Zusammenhang die hohe Geschwindigkeit hervorzuheben, mit der wandelbare Dächer als ergänzende bauliche Maßnahmen implementiert werden können.

Angestrebte wissenschaftliche Ziele
Die Forschung soll in der Breite aufzeigen, wie wandelbare Membrandächer in Städten zu deren Kühlung beitragen und architektonisch integriert werden können. Typische städtische Orte wie Innenhöfe, Plätze und Straßenräume werden näher betrachtet, um die maßgeblichen architektonischen und bautechnischen Randbedingungen zu identifizieren. In einer Serie von studentischen Studien, Stegreifen und Entwürfen werden geeignete Geometrien, Größen und Anordnungen ermittelt und systematisch dargestellt. Konkrete Fragestellungen, die am geplanten Prototyp untersucht werden können, betreffen einerseits Details des Antriebsmechanismus, andererseits das Faltverhalten der textilen Membrane unter Berücksichtigung von Material und Fügetechnik. Einige Versuche sind bereits in der Umsetzung. Um die Kühlwirkung zu verstärken, wird in das Dach eine Sprühnebelanlage integriert, die über Verdunstungskühlung die Lufttemperatur absenkt. Eine mögliche Begrünung wird genauso untersucht wie die effektvolle Beleuchtung oder der Einsatz von flexiblen Solarmodulen auf der Membrane.

Transfer und Vernetzung
Durch verschiedenste Membranprojekte erfolgte bereits in der Vergangenheit eine intensive Vernetzung mit Technologietransfer zwischen Prof. Kugel und verschiedenen Herstellern. Beispielsweise wurde für ein parallel raffbares Membrandach (Buchs CH) ein lineares Führungssystem im Außenbereich über 50m Länge eingesetzt, das ursprünglich für Anwendungen des Maschinenbaus im Innenbereich entwickelt wurde (SNR Wälzlager GmbH). Gemeinsam mit dem Hersteller wurden Bedingungen definiert und planerisch umgesetzt, um diese neuartige Verwendung erfolgreich zu realisieren.

In ähnlicher Weise sollen für verschiedene Bauelemente des wandelbaren Seilschirmes Austausch und Transfer mit der Industrie intensiviert werden mit dem Ziel, geeignete Produkte bestmöglich einzusetzen. Hierbei steht oft der ungewöhnliche Einsatz von Maschinenbauteilen im Vordergrund. An den Schnittstellen zwischen Maschinenbau und Bauwesen müssen regelmäßig Maßnahmen getroffen werden, um den jeweils sehr unterschiedlichen Toleranzbereichen durch konstruktive Details Rechnung zu tragen.

In Projekten mit wandelbarer Membrane werden Architektur, Ingenieurwesen und Maschinenbau von Beginn an eng integriert. Aufgrund dieser hohen Interdisziplinarität wird die Zusammenarbeit mit den entsprechenden Fachbereichen angestrebt, sowohl innerhalb der Hochschule als auch mit Kollegen anderer Universitäten. zu mehreren Lehrstühlen des Bauingenieurwesens besteht bereits entsprechender Kontakt, es wurden bereits gemeinsame Lehrveranstaltungen u.a. mit der Hochschule München durchgeführt.